Leseprobe aus:

Zander, Hans Conrad, 2005:

Warum waren die Mönche so dick? Wahre Komödien aus der Geschichte der Religion, Gütersloher Verlagshaus.

Ulrich Zwingli beim Friseur. 
Worin wir einen Reformator kennen lernen, der keine theologischen Sorgen hat.


An einem kalten Dezembertag des Jahres 1518 trat vor die 24 Chorherren des Großmünsterstifts zu Zürich der Kandidat Ulrich Zwingli, um sich für das Amt des »Leutpriesters«, das heißt des Gemeindepfarrers und Predigers am Großmünster, zu bewerben. Das Großmünster war zwar keine Bischofskirche, keine Kathedrale, aber es war doch die wichtigste Kirche in Zürich und somit so etwas wie die Hauptkirche der Alten Eidgenossenschaft. Verständlich, dass die Zürcher Chorherren den Kandidaten Zwingli auf Herz und Nieren prüften.
Seine humanistische Bildung erntete allgemeines Lob, auch seine vaterländische Gesinnung, seine tapfere Teilnahme an den italienischen Kriegen. Schon schien die Wahl gesichert, da bat, im letzten Augenblick, ein Chorherr nochmals ums Wort. Es seien sich wohl alle einig, dass als Prediger am Großmünster nur ein sittenreiner Priester in Frage komme. Ihm sei aber zu Ohren gekommen, dass der Kandidat Zwingli als Prediger in Einsiedeln eine Jungfrau verführt habe, und zwar die Tochter eines angesehenen Bürgers.
Eine Weile herrschte betretene Stille. Dann erhob sich Chorherr Utinger mit der Frage, was für eine Frau es denn gewesen sei, ob wirklich eine Jungfrau. Ulrich Zwingli schüttelte den Kopf. Ob denn wirklich die Tochter eines angesehenen Bürgers? Wieder schüttelte Zwingli den Kopf. Ja was für eine Frau es denn gewesen sei. »Es war«, sprach Ulrich Zwingli, »die Tochter eines Friseurs.«
Ein ungeheurer Seufzer der Erleichterung ging durch das Chorherrenstift von Zürich. Ja wenn das so war. Wenn das nur die Tochter eines Friseurs war. Und mit überwältigender Mehrheit wählten die Chorherren von Zürich Ulrich Zwingli zum Leutpriester am Großmünster.
Über die Tochter eines Friseurs abschätzig zu urteilen, mag unchristlich sein; mindestens so unchristlich wäre es auch, über einen Geistlichen abschätzig zu urteilen, weil er, wie Ulrich Zwingli den Chorherren freimütig gestand, mit dem Zölibat nicht zurechtkam. In ihm hatte das Großmünsterstift einen ausgezeichneten Priester gewählt, einen »Leutpriester« in des Wortes bester Bedeutung.
Wie Martin Luther war Ulrich Zwingli ein Bauernsohn. Aber nicht aus dem gleichen Bauerntum. Zum Untertan war Martin Luther von seinem Vater erzogen worden, Ulrich Zwingli zum aufrechten Gang: Sein Vater, ja schon sein Großvater waren Ammänner, das heißt, sie führten das Siegel einer Gemeinde von freien, selbstständigen Bauern im Toggenburg. Und während Martin Luther sich später hinter Klostermauern quälte, genoss Zwingli an den aufgeklärtesten Universitäten jener Zeit, in Wien und Basel, das Leben bei Saitenspiel und Becherklang.
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Wie diese Geschichte weitergeht und 24 weitere wahre Komödien aus der Geschichte der Religion finden Sie in dem 2005 erschienenen Buch des bekannten Satirikers und Egon-Erwin-Kisch-Preisträgers Hans Conrad Zander.