Leseprobe aus:

Zander, Hans Conrad, 1999:

Von der Leichtigkeit der Religion. Kleine katholische Kalorienkunde, 2. Aufl., Düsseldorf : Patmos-Verlag.

Den nächsten Ratschlag des heiligen Thomas gebe ich nur mit einem konfessionellen Vorbehalt wieder. Als besonders wirksames Heilmittel gegen depressive Zustände im Falle eines schweren und schmerzlichen Verlustes empfiehlt der große Dominikaner »lacrymae et gemitus - Tränen und Seufzer«. Katholischen Lesern wird dieser Ratschlag von großem Nutzen sein. Anders ist es mit Menschen evangelischer Erziehung. In der Kindererziehung des protestantischen Bürgerhauses wird ja der körperliche Ausdruck der Trauer, vor allem das Weinen, von früher Kindheit an scharf tabuiert, so dass - nach den Erfahrungen in meinem Verwandtenkreis jedenfalls - protestantische Erwachsene meist unfähig sind zu weinen, ja oft sogar unfähig zu seufzen. Eine Glaubenskrise ist aber nicht der Augenblick, um alles wieder in Ordnung zu bringen, was sich in frühester Kindheit falsch entwickelt hat. So ist es sinnlos, dass eine protestantische Seele sich hilflos bemüht zu weinen, obwohl sie das gar nicht kann. Daher die besondere Formulierung unserer Regel Numero vier: IM FALLE EINER RELIGIÖSEN LEBENSKRISE ÜBERLASSEN WIR UNS, FALLS WIR KATHOLISCH ERZOGEN SIND, DEM LÖSENDEN FLUSS DER TRÄNEN. FALLS WIR EVANGELISCH ERZOGEN SIND, VERSUCHEN WIR WENIGSTENS, EIN BISSCHEN ZU SEUFZEN.