Zander, Hans Conrad, 1984:
Gottes unbequeme Freunde. Heilige für unsere Zeit, München: Goldmann (Stern-Buch).
Schön wie
das Paradies waren die Inseln vor der Küste Amerikas alle, als Kolumbus dort im
Jahre 1492 landete. Aber keine war so schön wie Haiti, so reich und fruchtbar,
so dicht besiedelt wie ein Bienenstock.
Zwei Jahrzehnte danach ist dieser Garten Eden nur noch ein stinkendes
Leichenfeld. Die 1,1 Millionen Indianer, die (nach modernen Schätzungen) zuvor
auf der Insel lebten, sind, bis auf einen jammervollen Rest von 16 000, zur Hölle
gefahren: gehenkt, ertränkt, verbrannt, als Sklaven in den Goldgruben zu Tode
gequält, dahingerafft von europäischen Seuchen, niedergemetzelt im
wahnsinnigen Blutrausch der christlichen Eroberer.
Der letzte Indianer-Fürst vom Taino-Stamm, der dem Massaker entkam, hieß
Hatuey. Er floh nach Kuba. Dort fingen ihn die Spanier mit Bluthunden wieder
ein.
Schon war er auf den Scheiterhaufen gebunden, als ein Missionar vom Orden des
heiligen Franziskus auf ihn zutrat und ihm ein Kruzifix vor die Augen hielt.
Dies sei der wahre Gott. Wenn er sich zu ihm bekehre, werde er in den Himmel
kommen, den Ort des ewigen Glücks. Wenn er aber nicht an diesen Gott glaube,
werde er zur Hölle fahren, zum Ort der ewigen Qual.
Zuerst schwieg der Indianer. Dann fragte er den Missionar, ob denn auch Christen
in den Himmel kämen. "Allerdings", antwortete der Franziskaner,
"alle guten Christen kommen da hinein." Da erwiderte der Indianer,
lieber wolIe er ewig in der Hölle brennen, als im Himmel leben zu müssen unter
diesen grausamsten aller Menschen.
Es ist das Jahr 1542. In seinem spanischen Throngemach sitzt Karl V., König von
Spanien und Kaiser von Deutschland; schweigend vernimmt der Monarch diese
grauenhafte Schilderung von dem Völkermord, der seit vier Jahrzehnten an den
Eingeborenen in den neuen Kolonien geschieht: auf Haiti und auf Kuba, in Florida
und Mexiko, in Venezuela und Peru.
Vor dem Kaiser, in der weiß-schwarzen Kutte der Dominikaner, steht ein 68jähriger
Mönch aus Haiti. Der Bericht, den er vorliest und den er selbst geschrieben
hat, trägt den bescheidenen Titel: "Brevisima Relacion - Äußerst kurzer
Bericht von der Verwüstung der indianischen Länder." Dieses Büchlein,
ein paar Jahre später in Sevilla gedruckt, wird das spanische Weltreich so
erschüttern wie jetzt das Gewissen des Kaisers. Denn hier spricht ein
Augenzeuge. "Ich habe es selbst gesehen", so beginnt fast jede der fürchterlichen
Blutszenen. Oder: "Dies ist die Erfahrung der Augen." Und, als genügte
dies nicht: "Ich konnte es mit Händen greifen."
So schildert der Mönch dem Kaiser, wie die Christen auf Haiti die Indianer bündelweise
henkten, stets dreizehn an einem Galgen, "zu Ehren und zur Verherrlichung
des Erlösers und der zwölf Apostel". Wie Banden von verwahrlosten
deutschen Landsknechten das heutige Venezuela verwüsteten. Wie in den Städten
Mexikos, nach der christlichen Eroberung, unter Bergen von Leichen verstümmelte
Kinder klagend hervorgekrochen kamen, und wie die Spanier, nur so zum Spaß, die
zappelnden Leiber mit einem einzigen Schwerthieb entzweischlugen. Wie alle
Indianerstämme auf den Bahamas und auf Trinidad durch die höllische
Zwangsarbeit der Perlenfischerei ausgerottet wurden:
"Man senkt die Perlenfischer nämlich drei, vier, auch wohl fünf Klafter
tief ins Meer, und zwar von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Unaufhörlich
wird ihr Leib von Kälte durchdrungen, ihre Brust vom häufigen Zurückhalten
des Atems zusammengepreßt, bis sie Blut speien. Ihr Haar, das von Natur schwarz
ist, wird brandrot wie das Fell der Meerwölfe. Auf ihrem Rücken schlägt
Salpeter aus. Zum Schluß, bevor sie sterben, sehen sie aus wie Ungeheuer in
Menschengestalt."
"Das habe ich selbst gesehen", sagt Las Casas dem Kaiser. Und:
"Ich war so verblendet wie alle andern." Denn bevor er die Kutte des
heiligen Dominikus anzog, war dieser Augenzeuge selbst einer der spanischen
Sklavenhalter auf Haiti.
Wenn er jetzt dem Kaiser schildert, wie sich die Indianer auf Kuba zu Hunderten
selber aufgehängt haben, nur um der Fronarbeit in den Goldgruben der Spanier zu
entgehen, so weiß er vor Gott, wovon er redet. Er hat ja selber eine Goldgrube
auf Kuba ausgebeutet.
Der Mönch, der aus der Hölle kam, heißt Bartolome de Las Casas. Geboren wurde
Las Casas 1474 in Sevilla als Sohn von getauften Juden.